Hätte man uns vor der Exkursion gefragt, welche politischen Ereignisse wir mit der Ukraine verbinden, wäre der Schwerpunkt der meisten Studierenden vermutlich auf zwei Themen gewesen: der Zugehörigkeit der Ukraine zur ehemaligen Sowjetunion sowie die Proteste auf dem Majdan-Platz im Jahr 2014, welche die Absetzung des damaligen Präsidenten Janukowytsch sowie die Annektion der Krim und den bis heute andauernden Krieg im Osten des Landes zur Folge hatten. Der sogenannte „Euromajdan“ stand auch im Zentrum unserer ersten Vorbereitungssitzungen und unserer ersten Gespräche mit den ukrainischen Studierenden, die uns während der Exkursion begleiten. Kein Wunder also, dass wir es kaum erwarten konnten, nach über einer Woche in der Ukraine endlich den Ort der Geschehnisse, den Majdan-Platz in Kyjiw zu besuchen.
Geschichte im Nieselregen
Es ist ein regnerischer, kalter Herbsttag, der jetzt am Spätnachmittag, als wir den Platz erreichen, noch grauer und düsterer wird. Auch wenn das Wetter damit dem winterlichen Wetter der Proteste ähnelt, fällt es erstmal schwer, sich diesen belebten, von Einkaufsmalls, Restaurants und Hotels umgebenen Platz mit Belagerungscamps, Protestierenden, militärischem Aufgebot und Auseinandersetzungen vorzustellen. Wir spazieren zum südlichen Ende des Platzes, wo das über 60m hohe Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine steht. In einem Kreis darum sind große, breite Säulen aufgestellt, die die Ereignisse des Winters 2013/14 chronologisch in Bildern und Texten festhalten. Langsam schlendern wir um diese Säulen und tauchen ein in die Geschichten eines Studentenprotestes, der sich zu einer nationalen „Revolution der Würde“ entwickelte und zwar die Absetzung des umstrittenen Präsidenten erreichte, aber auch 80 Todesopfer forderte sowie weitere Konflikte mit Russland auslöste.
Glory to the Ukrainian Nation!
Denkmäler sind wir spätestens seit dem ersten Stadtrundgang in Kyjiw gewohnt. Was an diesem Denkmal jedoch anders ist, ist sein Alter: Nicht einmal sechs Jahre ist es nun her, dass an dieser Stelle, an der wir gerade stehen, hunderttausende von Menschen über Wochen und Monate protestierten. Wenn wir mit gleichaltrigen ukrainischen Studierenden sprechen, waren sie entweder selbst an den Protesten beteiligt oder kannten Protestierende aus ihrem nächsten Umfeld. Das sieht man auch an der Gestaltung der Denkmäler: Die Dokumentation erfolgt anhand von Facebook-Posts, die eindrücklich und persönlich die Erlebnisse der Beteiligten festhalten.
„Now the entire world knows, and may the future Presidents of the Ukraine remember“, schreibt Marion Pavliuk da auf der letzten Säule, „that you cannot beat Ukrainians with batons, you cannot trample them with your feet, you cannot treat them like a herd of animals. And God forbid, you cannot shoot them.“
Mir ist vollkommen klar, welches Unheil Patriotismus und Nationalismus anrichten können. Nichtsdestotrotz beginne ich bei diesem Denkmal doch zu verstehen, wo der oftmals kritisierte Nationalstolz vieler Ukrainer*innen herrührt und wie tausende junge Menschen – ungeachtet der Gefahren – für ihr Land und ihre nationale Unabhängigkeit auf die Straße oder an die ostukrainische Front gehen können.
Der Majdan ist ein beeindruckender Schauplatz jüngster europäischer Geschichtsschreibung und ich wünsche allen Ukrainer*innen, dass er zukünftig als ein Ort der Feier und weniger als ein Ort der Gewalt und des Konfliktes erhalten bleibt.