Surschyk oder der Turmbau zu Odesa

Wie viele Sprachen sprechen Sie fließend? Deutsch, Englisch? Vielleicht noch Französisch, Türkisch, Russisch? Viele Deutsche verbinden Sprachen lernen mit Schulunterricht, Vokabellernen und Grammatikprüfungen. Wer mehr als eine Muttersprache spricht wird entweder als besonders begabt oder besonders gestraft gesehen – die unterschiedlichen Sprachen in Schrift und Aussprache auseinanderzuhalten und jeweils in Reinform zu beherrschen sei doch eine Herausforderung! Länder mit mehr als einer Amts- oder Verkehrssprache erinnern an den Turmbau zu Babel: Heilloses Chaos vorprogrammiert! Doch wie lebt es sich wirklich in einem Land, in dem mehr als eine Sprache genutzt wird? Wir gehen auf Entdeckungstour und siehe da – es ist gar nicht so schwer!

Sprachpolitik in der Ukraine

Durch die unterschiedlichen politischen Zugehörigkeiten der Ukraine, durch Umsiedelungen, Migrations- und Fluchtbewegungen sowie politische „Säuberungen“ war die Sprachlandschaft der Ukraine seit Jahrhunderten divers und in ständiger Veränderung. Seit der Unabhängigkeit 1991 ist die einzige offizielle Amtssprache das Ukrainische, jedoch nennen noch immer 30-50% Russisch als ihre Muttersprache oder bevorzugte Sprache. In Odesa wohnen beispielsweise 95% russischsprachige Ukrainer*innen. Achtung! Wer Russisch als Muttersprache angibt, bezeichnet sich deshalb nicht automatisch als Russe / Russin und ist erst recht nicht immer pro-russisch eingestellt!

Nachdem die Medien- und Kulturlandschaft auch nach der ukrainischen Unabhängigkeit noch lange vom Russischen dominiert war, gibt es inzwischen immer mehr Bestrebungen, die ukrainische Sprache zu fördern. Fördertöpfe für ukrainische Kultur, ukrainische Filme im Kino und rein ukrainische Buchläden zeigen eine Neuausrichtung der Sprachpolitik.

Surschyk und Multilingualismus
Der Turmbau zu Babel (Quelle: www.wikipedia.org/wiki/Kleiner_Turmbau_zu_Babel)
Der Turmbau zu Babel (Quelle: www.wikipedia.org/wiki/Kleiner_Turmbau_zu_Babel)

“Na, und wie unterhalten die sich dann?“, fragen Sie? Die meisten Ukrainer*innen beherrschen beide Sprachen und sind es gewöhnt, regelmäßig zu wechseln. Dazu gibt es noch eine Mischform, das sogenannte Surschyk, das russisches und ukrainisches Vokabular vereint. Je nach Wohnort und Ausbildung kommen dazu weitere Dialekte und Sprachen. Klingt für so manch Deutschen vielleicht kompliziert, ist es aber (nicht immer). Multilingualismus, so der wissenschaftliche Terminus, ist ein in vielen Ländern vollkommen normales Phänomen. Nicht jede Sprache wird dabei in Ausbildungsstätten gelehrt und im Anschluss perfekt beherrscht. Es geht eher um Kommunikationsfähigkeit, die auch mit situationsbezogenem Vokabular bereits hergestellt werden kann. Nicht selten können so auch mehrere hundert Sprachen (wohlgemerkt: keine Dialekte!) in einem Land parallel existieren.

Für unsere Exkursion reichten vorerst wenige Brocken Ukrainisch und Englisch. Beim nächsten Besuch in der Ukraine können wir vielleicht bereits Ukrainischkenntnisse vorweisen und selbst hautnah in diese Sprachenvielfalt einsteigen.