Das kollektive Gedächtnis besteht aus einem gemeinschaftlich geprägten, sowie einem sozial geprägten individuellen Gedächtnis. Das gemeinschaftlich geprägte Gedächtnis kann von Erinnerungspolitik beeinflusst werden, weil die Erinnerungspolitik öffentlich Geschichts- und Identitätsbilder konstruiert. Außerdem gibt es nicht nur das kollektive Erinnern sondern auch das kollektive Vergessen, welches oft aus der Verdrängung unangenehmer Ereignisse resultiert. Erinnerungsformen werden durch politische Entscheidungen inszeniert und die Erinnerungskultur wird von der Standortfestlegung von Erinnerungsorten bestimmt. Es sind also spezielle Symbole und Rituale notwendig, damit sich eine Bevölkerung mit dem Staat identifizieren kann.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wurde in Polen zwar durch die Politik der Sowjetunion eingeschränkt, jedoch hatte diese wenig Einfluss auf das kollektive Gedächtnis in Polen. Deutliche Unterschiede zwischen der offiziell überlieferten Erinnerung und der jeweiligen kollektiven Erinnerung zeigen, dass Informationen aus dem privaten Umfeld zum Zweiten Weltkrieg eher angenommen werden als die Informationen aus den Medien. Während der Zeit des Sozialismus wurde durch die Politik eine Alternativlosigkeit zum Sozialismus propagiert. Hinsichtlich der Erinnerung an den Sozialismus lassen sich drei verbreitete unterschiedliche Sichtweisen erkennen: Bei einem Teil der Bevölkerung wird die Grundidee gelobt, jedoch die schlechte Umsetzung kritisiert. Bei einem anderen Teil der Bevölkerung wird die rebellische Opposition bei der Erinnerung betont, während bei der dritten Sichtweise der geistige Widerstand der wichtigste Einfluss zur Beseitigung des Sozialismus war. Des Weiteren wird im Allgemeinen an ruhmreiche, scheinbar wichtige Ereignisse (ohne Hervorhebung der eigenen Mitbeteiligung am System) erinnert. Seit 1989 versucht die Politik ein neues positives Selbstbild in Polen aufzubauen. Hierbei steht die Rückbesinnung an die Zweite Republik (1918 – 1939) im Vordergrund.
In den Jahren 1932/33 kam es in der Ukraine zu einer Hungerkatastrophe, die als Holodomor („Tötung durch Hunger“) bezeichnet wird. Beim Holodomor handelt es sich um eine künstlich geschaffene Hungersnot. Die künstlich herbeigeführte Hungersnot kostete insgesamt geschätzt sechs bis sieben Millionen Menschen das Leben, wobei hier die Meinungen in der Literatur auseinander gehen, da mintunter die Rede von zehn Millionen Opfern ist. Während der Hungersnot starben in der Ukraine etwa 10 Prozent der Bevölkerung davon waren etwa 80 Prozent der Toten ethnische Ukrainer. Die Sowjetregierung unter dem kommunistisch-stalinistischen Regime führte 1928 nach dem Bürgerkrieg erstmals wieder die Zwangskollektivierung der Ernte ein, die sich von Jahr zu Jahr weiter verschärfte. In den Jahren 1932/33 waren die Getreideabgabequoten dann so unerreichbar hoch, dass den Bauern keine Nahrungsmittel zum Überleben verfügbar waren.
Die Hungersnot konzentrierte sich vor allem auf die Regionen mit Getreideüberschuss in Gebieten mit fruchtbaren Schwarzerde Böden, weil dort die Zwangskollektivierung ihren Schwerpunkt hatte. Die Zwangskollektivierung hatte die Absicht einer repressiven Säuberung von einer scheinbar steigenden Anzahl von ukrainischen Nationalisten und anderen nach Stalin definierten Feinden, die sich beispielsweise gegen die Kollektivierung oder „Entkulakisierung“ widersetzten und zum Teil auch bewaffneten Widerstand leisteten. Die Stalin-Führung sah den Hunger daher als Instrument, den Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung zu brechen und die Ukrainer politisch zu unterwerfen. Im September 1933 war das Massensterben vorbei, da von der politischen Führung die Auflagen heruntergeschraubt wurden, um die Versorgung der Städte nicht komplett zu riskieren.
Der sowjetischen Führung ist es gelungen, die Hungersnot weitgehend zu verschweigen und leugnete darüber hinaus das Vorhandensein einer Hungersnot. Erst gegen Ende der 1980er Jahre wurde das Schweigen gebrochen. Mittlerweile hat der Holodomor in der Ukraine große öffentliche Aufmerksamkeit erlangt und spielt sowohl für die nationale Selbstwahrnehmung der neuen Ukraine als auch für die nationale Identität eine wichtige Rolle. Erinnerungspolitisch wurde die Holodomor genannte Hungersnot lange unter dem Einfluss des stalinistischen Regimes verschwiegen und geheim gehalten. Außerdem wurde die Existenz einer Hungersnot in der Öffentlichkeit lange Zeit abgestritten. Selbst in der Ukraine war es schwierig, eine öffentliche Erinnerung an die Hungersnot zu etablieren, zumal bis Ende der 1980er Jahre kategorisch geleugnet wurde, dass es eine Hungersnot in der Ukraine gab. Die Gedenkorte in der Ukraine erinnern auf ganz unterschiedliche Weise an die Opfer des Holodomor. Oftmals handelt es sich um schlichte Kreuze ohne Inschrift und an wenig bekannten Orten. Dies gibt einen Hinweis auf die Schwierigkeiten und die Unsicherheit nach jahrzehntelangem Verschweigen, öffentlich ein Gedenken an die Opfer zu errichten, welches dem Ausmaß des Ereignisses gerecht wird. Die Gedenkzeichen wurden häufig von Einwohnern aus dem Wunsch heraus errichtet, um an ihre verstorbenen Angehörigen zu erinnern und sind somit selten über die Grenzen der Dörfer bekannt. Erst durch den geförderten Bau von Mahnmahlen in der Ukraine im Zuge von gesamtstaatlichen Gedenkprogrammen stellt sich die Zurückhaltung in der Gedenkkultur an den Holodomor in den letzten Jahren langsam ein. Doch bis heute stehen die Gedenkzeichen an den Holodomor im Schatten der sowjetischen Denkmalskultur, wie die des Zweiten Weltkrieges, bei denen sich die Erinnerung an die Hungerkatastrophe im öffentlichen Raum erst noch durchsetzen muss.
Dokumentation: Die vergessene Hungersnot in der Ukraine
Autoren: Manuel Feilner und Kerstin Hofmann