05: Strukturwandel ab 1945 – Modernisierung, Quartiersaufwertung, Zuwanderung und Fragmentierung, Großwohnsiedlungen – Eine Tour durch die Bordelaiser Großwohnsiedlung “Les Aubiers”

“[…] vom Sinnbild der Moderne zu Orten der Ausgrenzung […]” – derart plakativ beschreibt der deutsche Autor Weber die Entwicklung Frankreichs Großwohnsiedlungen ab 1945, zu denen nicht zuletzt die Siedlung “Les Aubiers” in der südwestfranzösischen Stadt Bordeaux zählt (Weber 2010: 92).

Abbildung 1: geographische Lage „Les Aubiers“ in Bordeaux (Google Maps 2022)

Für den Morgen unseres fünften Tages in Bordeaux, stand eine geführte Tour durch die besagte Großwohnsiedlung mit dem französischen Architekten und Quartiersmanager, Thibault Tatin, auf dem Programm. Mit der Tram geht es in Richtung Norden, tendenziell stadtauswärts, bis wir die weißen Wohnblocks der zweitärmsten Nachbarschaft Südwestfrankreichs erreichen. Die Bauweise erinnert zunächst an die „moderne Architektur“ nach Le Corbusier, doch deutlich in die Jahre gekommen. Die Bewohnerschaft, zumindest der Teil, den wir sehen, unterscheidet sich stark von der Mehrheit, der in den innerstädtischen Quartieren Bordeauxs lebenden Franzosen: auffällig ist die koloniale Prägung der Bewohnerschaft „Les Aubiers“. Neben Zentral- und westafrikanisch Stämmigen, lässt sich eine große Zahl an Migranten*innen aus den Maghrebstaaten erkennen. Die Minderheitenzentralität ist in diesem Teil Bordeaux äußerst präsent.

Beeindruckend der Wandel der Großwohnsiedlungen in Frankreich, zumal sie nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zuge der Wohnungsnot und dem industriellen Aufschwung Frankreichs, während der 30 glorreichen Jahre, „Les Trentes Glorieuses“, als Großprojekte gebaut wurden (Zessin 2005). Im Zuge des ökonomischen Aufschwungs, entstanden größere Migrationswellen in Frankreich. Insbesondere transnationale Migranten*innen aus ehemaligen französischen Kolonien, die sich zunehmend in den Wohnsiedlungen am Stadtrand französischer Städte niederließen. Damals galten die Großwohnsiedlungen als „modern“ und kennzeichneten sich ferner durch eine soziale Durchmischung der Bewohnerschaft, entsprechend dem Leitbild einer vereinten Gesellschaft, „une societé unie“ (Glasze et al. 2010: 460f.). Heute beobachten wir das Gegenteil, rund 3 600 Menschen leben in den rund 110 -160 m2 großen Wohnungen „Les Aubiers“. Drogen, Gewalt, Aggressionen und unangemessenes Verhalten stehen auf der Tagesordnung, und insbesondere ersteres merken sogar wir, am hellichsten Vormittag.

Begünstigt wird der Wandel der Großwohnsiedlungen, sowie die Fragmentierung der Stadt durch Prozesse wie der „Périurbanisation“, einer französischen Form der Suburbanisierung, die insbesondere auf die 1970er Jahre zu datieren ist (Glasze et al. 2010: 461f.). Aktuelle Dynamiken der Gentrifizierung in der Bordelaiser Innenstadt tragen zusätzlich zu Veränderungen der Stadt- und Randgebiete Bordeauxs bei (ebd.).

Ein bisschen kommt es uns so vor, als würden wir in „Les Aubiers“ in eine neue Welt eintauchen, in eine „Stadt in der Stadt“, eine Art Containerraum. Dieses Gefühl bekommen wir bestätigt, insbesondere als uns Thibault erzählt, dass sich bis vor geraumer Zeit ein „Checkpoint“ zwischen der (Innen-)Stadt Bordeauxs und den Wohnsiedlungen befand. Wir fragen uns wie es so weit kommen konnte, ob denn Sanierungsmaßnahmen, die der Quartiersaufwertung dienen, ein Schritt in eine bessere Zukunft der Großwohnsiedlung sein könnten und inwiefern sich „Les Aubiers“ als Containerraum manifestiert.

Thibault erklärt uns, dass es zwar eine französische Agentur für Stadterneuerung gibt, die „Agence Nationale pour la Rénovation Urbaine“. Allerdings kann diese, aufgrund diverser „Hindernisse“ keine hinreichenden Maßnahmen in die Wege leiten, obwohl sie sich stets an der französischen „politique de la ville“ orientiert. Die besagte Stadtpolitik zielt primär darauf ab, mittels Gesetze und der Kategorisierung der Stadtviertel in unterschiedliche Zonen („area-basierter Ansatz“), den sozialpolitischen Herausforderungen zu denen nicht zuletzt die Stigmatisierung, Ausgrenzung und starken Entwicklungsunterschiede der Wohnsiedlungen zählen, zu begegnen (Glasze et al. 463ff.). Eines der größten „Hindernisse“ bezüglich der Durchsetzung gezielter Maßnahmen, stellt der Besitz der Großwohnblöcke dar. Im Regelfall sind diese Eigentume großer privater Unternehmen, welche die alleinige Verfügungsbefugnis über die Gebäude, sowie eventuelle Sanierungs- und Aufwertungsmaßnahmen haben. Eine komplette Sanierung und Quartiersaufwertung wäre äußerst kostspielig, sowohl für die besagten Unternehmen als auch für die Bewohnenden der Großwohnsiedlung, welche mit einer steigenden Miete infolgedessen zu rechnen hätten. Aktuell beläuft sich der durchschnittliche Mietpreis für eine 120 m2 große Wohnung in „Les Aubiers“ auf vier Euro. Ein Preis, der offensichtlich deutlich unter dem Bordelaiser Mietspiegel liegt. Der innerstädtische Wohnungsmarkt in Bordeaux ist eng, und die Mietpreise hoch. Nicht nur Familien und Einpersonenhaushalte, sondern auch Studierende stehen häufig vor einer großen Herausforderung, eine angemessene Unterkunft in Bordeaux zu finden. Der Zuzug von Studierenden in die Großwohnsiedlungen, wie beispielsweise „Les Aubiers“ scheint ein plausibler Weg zu sein, das Gesicht und den Charakter des Quartiers zu verändern. Günstige Mieten, einen See in unmittelbarer Nähe und nur ein paar Stationen mit der Tram bis zum Stadtzentrum Bordeauxs, klingt für Studierende erst einmal nicht unpassend. Auf Nachfrage wird uns allerdings erklärt, dass die Vorstellung, einer Art „Gentrifizierung“ „Les Aubiers“ durch Studierende stets eine Utopie bleiben wird. Voraussetzung hierfür wäre mitunter eine bauliche Sanierung der Wohnungen, wie das bereits in Teilen des „Gran Parc“, einer weiteren Großwohnsiedlung Bordeauxs durchgeführt wurde. Gleichwohl zeigt uns das Beispiel „Gran Parc“, dass Sanierungen und Aufwertungsmaßnahmen neben positiven Effekten einerseits, negative Folgen, darunter Verdrängung und sozialräumliche Segregation, andererseits, mit sich bringen. Darüber hinaus legt uns Thibault dar, dass viele Bordelaiser die Gegend tendenziell meiden und sich bewusst von den Wohnblocks distanzieren. Es sei damit zu rechnen, dass viele Eltern ihren studierenden Kindern nicht erlauben würden, in eine günstige Wohnung der „Les Aubiers“ einzuziehen. Dennoch kann in Erwägung gezogen werden, ein Studentenwohnheim in der Nähe der „Les Aubiers“ zu bauen. Auf diese Weise schafft man auf größerem räumlichem Maßstab eine verstärkte sozialräumliche Durchmischung. Dennoch bliebe die Großwohnsiedlung stigmatisiert, isoliert und auf kleinräumigeren Maßstab sozialräumlich homogen.

Immer wieder wird uns bewusst, wie der Raum „Großwohnsiedlung“ stetig von unterschiedlichen Akteuren und Seiten „reproduziert“ wird. Primär diskursiv, insbesondere durch verbale Diskriminierung und der Wahrnehmung der Stadtviertel als „Angsträume“. Jedoch lässt sich auch eine materielle Reproduktion, durch den Bau homogener großer Wohnblöcke und der Lage stadtauswärts, erkennen. Zuletzt ist auf die Reproduktion des imaginierten Raumes durch die Bewohnerschaft selbst hinzuweisen. Abgesehen von den Herkunftsländern und der Kettenmigration, lässt sich in den Großwohnsiedlungen, wie auch in „Les Aubiers“ eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Arbeitslosen, sowie Geringverdienenden vorfinden. Das Beispiel „Les Aubiers“ führt uns die ungleiche räumliche Verteilung der Armut und des Lebensstandards in Bordeaux auf eine besondere Weise vor Augen, die urbane Ungleichheit ist hier besonders präsent.

Trotz einiger Bemühungen und vereinzelter Maßnahmen angesichts der Quartiersaufwertung und Modernisierung der Großwohnsiedlungen, stellen wir ernüchternd fest, dass „Les Aubiers“, sowie weitere Großwohnsiedlungen eine der größten französischen stadt- und sozialpolitischen Herausforderung der Gegenwart und Zukunft sind. Schlussendlich lässt uns der Eindruck eines französischen Ortes der Ausgrenzung, wie Weber 2010 die Großwohnsiedlungen beschreibt, leider nicht los.

      Abbildung 2: Die französische Großwohnsiedlung „Les Aubiers“ in Bordeaux                       (eigene Aufnahmen 2022)

Quellen:

GLASZE, G., WEBER, F. (2010): Drei Jahrzehnte area-basierte Stadtpolitik in Frankreich: die politique de la ville. Raumforschung und Raumordnung, Volume 68, S. 459-470.

ZESSIN, P. (2005): „Les trentes glorieuses“ – Wirtschaftlicher Boom, Fortschrittsoptimismus und gesellschaftlicher Aufbruch 1950-1975. In: hu-berlin.de – Humboldt Universität zu Berlin.de. Online abrufbar unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=817&view=pdf&pn=tagungsberichte&type=tagungsberichte. Zuletzt abgerufen am 07.07.2022.

Verfasserin: Julia Schindler

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