Oberschöneweide

Der zweite Tag der Exkursion beginnt mit einer Besichtigung des Ortsteils Oberschöneweide im Bezirk Treptow-Köpenick im Osten Berlins. Schöneweide untergliedert sich in Nieder- und Oberschöneweide, welche topographisch voneinander durch die Spree getrennt sind und sich im Laufe der Zeit unabhängig voneinander entwickelten. Oberschöneweide zeichnet sich dadurch aus, dass seit Ende des 19. Jahrhunderts Industrie, Wohnen und Naherholung auf engstem Raum miteinander vereint sind. Heute ist das Quartier vor allem wegen seiner vielen gründerzeitlichen Industriebauten an der Wilhelminenhofstraße bekannt. Diese Straße fungiert außerdem als eine Art Grenze von Wohn- und Industriegebiet.

Abb.1: Ehemaliges AEG Produktionsgebäude (Foto: S. Diemer)

Abb.2: Industriebauten an der Wilhelminenstraße (Foto: S. Diemer)

Auf dem ehemaligen Industriegelände angekommen, werden wir schon von Frau Susanne Reumschüssel, der Projektleiterin des Industriesalons Schöneweide e.V., erwartet. Sie führt uns durch das von einer Bürgerinitiative verwaltete Museum „Industriesalon Schöneweide“. Das Museum, welches heute zum Landesverband der deutschen Museen gehört, erzählt vom industriellen Hoch Berlins. Die Wände des großen Empfangsbereichs werden von Informationstafeln über die Geschichte des Ortes geziert. Die vielen in Vitrinen ausgestellten Industrierelikte hinterlassen einen bleibenden Eindruck und verleihen dem Museum einen besonderen Flair. Die Trägerinitiative gründete sich vor neun Jahren mit dem Ziel, es zu verhindern, dass das industrielle Erbe Berlins verloren geht. Diese Motivation geht auf eine Zeit zurück, als immer mehr denkmalgeschützte Gebäude für den Abriss freigegeben und zahlreiche Industrierelikte entsorgt wurden. Frau Reumschüssel betont schon zu Beginn der Führung, dass der Stadtteil vor dem zweiten Weltkrieg als die größte Industriemetropole ganz Europas galt. Auch noch nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Areal als das Hightech-Zentrum der DDR bezeichnet. Der Industriestandort zeichnete sich einst dadurch aus, dass hier sowohl intensiv geforscht als auch produziert wurde. Die Forschungsstätten erlangten durch die hohe Innovationskraft, besonders auf dem Gebiet der Elektroröhren, hohes Ansehen.

Im weiteren Verlauf unserer Besichtigung werden wir außerdem über die Anfänge der Berliner Industrie aufgeklärt. So wurde der Grundstein für die damalige zentrale Stellung Berlins im Industriesektor um 1890 gelegt, als sich sowohl Siemens als auch AEG in der Stadt ansiedelten. Im Gegensatz zu Siemens eröffnete AEG seinen Standort jedoch nicht in Westberlin, sondern am damaligen Ostrand – in Oberschöneweide. Die florierende Industrie lockte viele arbeitssuchende Menschen in die Stadt, welche sich schließlich in nächster Nähe des Industriegürtels niederließen. Die zu dieser Zeit entstandenen Arbeitersiedlungen, welche übrigens noch heute auf der gegenüberliegenden Seite der Wilhelminenhofstraße vorzufinden sind, wurden zusammen mit weiteren Industrieanlagen und dem Erholungspark Wuhlheide geplant, um schließlich in der Gesamtheit einen neuen Stadtteil zu formen.

Während des zweiten Weltkriegs arbeiteten in Oberschöneweide insgesamt 7000 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen für die deutsche Rüstungsindustrie. Nach Ende des Kriegs und der Teilung Deutschlands kam es zur mehrheitlichen Enteignung der Firma AEG durch das Regime der Sowjetunion. AEG verlor dadurch insgesamt 75% ihrer Unternehmensanteile. Als Konsequenz verlagerte man deswegen die damalige Unternehmensführung der noch übrigen Unternehmensteile nach Hamburg. Nach der Wende gingen die ehemals enteigneten Firmenanteile an eine Treuhandgesellschaft über, welche die schwere Aufgabe hatte, die Industrie des Standorts wieder in die kapitalistische Marktwirtschaft zu überführen. Durch die vielen Systemwechsel kam es zu einer allgemeinen Strukturschwächung Ostberlins und damit auch zum Verlust von etlichen Arbeitsplätzen. Wenngleich das produzierende Gewerbe im Ortsteil heute überwiegend zum Erliegen gekommen ist, haben das in diesem Stadtteil generierte Wissen und die daraus resultierenden Netzwerkeffekte zu Neugründungen von bisher insgesamt 15 Unternehmen geführt, welche heute zum Teil sogar global agieren.

Eindrücke des Rundgangs

Abb. 3: Graffiti an den Lagerhallen auf dem ehemaligen AEG Gelände (Foto: S. Diemer)

„Gib der Kunst Raum, dann wird sich die Schönheit ihrer Seele in Freiheit entfalten“ – dieser Satz über einem riesigen Graffiti ziert die Rückwände der ehemaligen Lagerhallen am Kaisersteg in Oberschöneweide. Und gerade das wird in Oberschöneweide versucht in die Tat umzusetzen: der Kunst Raum zu geben. Raum, um Oberschöneweide wieder neues Leben zu verleihen und einen neuen wirtschaftlichen Entwicklungszweig zu etablieren. Denn zu Beginn unserer Stadtteilführung erzeugt das Areal rund um den Kaisersteg auf den ersten Blick einen eher tristen Eindruck. So hinterließ das weitflächige Gelände des ehemaligen „Chicago an der Spree“ nach der ‚Wende‘ riesige leerstehende Lagerhallen und marode Fabrikgebäude, die heute nur noch eine vage Ahnung von der Geschichte des wichtigsten Industriebandes der einst größten Industriemetropole Europas zulassen.

Jedoch wird während des weiteren Verlaufs der Führung schnell deutlich, dass sich ein genauerer Blick auf viele der vermeintlich leerstehenden Gebäude lohnt. Denn um das industrielle Erbe Berlins in die Stadtentwicklung zu integrieren, wird aktuell – durchaus mit Erfolg – versucht den Standort für Kreativwirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kunst zu vermarkten. Die Neu-Positionierung des Stadtteils von der Elektroindustrie hin zur Kreativwirtschaft drückt sich dabei unweigerlich auch in Struktur und Erscheinungsbild des Geländes und des restlichen Stadtteils aus.

Schon am Anfang der Besichtigung des ehemaligen Industrieareals an der Spree wird deutlich, dass sich dort viele ambivalente Elemente und Strukturen entwickelt haben, die auch aus einer geographischen Perspektive interessante Einblicke gewähren.

Abb. 4: Fassaden auf dem ehem. AEG-Gelände

Abb. 5: Spreeufer am Rande des Geländes (Fotos: S. Diemer)

Der wohl offensichtlichste Kontrast betrifft die Nutzung des Gebiets, denn inmitten der alt-industriellen Strukturen an der Spree wurden viele Fabriken und Lagerhallen umstrukturiert. Das berühmteste Beispiel stellt der im Jahr 2009 errichtete Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) dar, welcher in den ehemaligen Kabelwerken Oberspree (KWO) und rund um das umliegende Gelände erbaut wurde. Auch die Vermietung der riesigen Lagerhallen an KünstlerInnen und Kreativen stechen beim Rundgang besonders hervor, denn wo vormals Kabel und Elektroröhren produziert wurden, soll nunmehr Kreativität gefördert werden.

Ebenso verstärken die baulichen Elemente dabei den Eindruck einer sehr kontrastreichen Entwicklungslandschaft. So stehen den beeindruckenden und gewaltigen, unverputzten Mauerwänden der Lagerhallen auf der einen Seite, weiß-gestrichene, moderne kubistische Gebäude auf der anderen Seite gegenüber. Die unter Denkmalschutz gestellten Industriebauten und Lagerhallen sind Relikte einer längst vergangenen Industrieepoche, die nicht abgerissen werden dürfen und somit auch nicht aus der Historie der Stadtentwicklung gelöscht werden sollen. Allerdings spielen sich gerade in diesen Gebäuden die neusten Entwicklungen ab, Investitionen werden getätigt, und es wird versucht ein neues geschichtliches Kapitel in Oberschöneweide einzuleiten.

Auch das Gelände der ehemaligen Autofabrik im Peter-Behrens-Bau verdeutlicht diese Entwicklungen deutlich. Vor über 100 Jahren begann hier die Automobil-Serienproduktion, später wurden hier Fernsehröhren hergestellt. Nachdem Samsung nach der Wende übernahm, die Produktion aber 2005 einstellte, wurde die Immobilie verkauft und an viele kleinere Firmen vermietet. Aktuell steht das Gebäude unter Denkmalschutz und wirkt wie ein Relikt einer längst vergangen Epoche. Mittlerweile steht eine Nutzung der benachbarten HTW zur Debatte, welche den ehemaligen Produktionsstandort gerne als Standort für Wissensproduktion nutzen wollen würde. Insbesondere der Ausblick von der Aussichtsplattform des ehemaligen Wasserturms der Autofabrik offenbarte einen beeindruckenden Ausblick auf Berlin und das Umland.

Abb. 6: Panorama vom Wasserturm der ehem. Autofabrik

Abb. 7: Innenarchitektur des Wasserturms (Fotos: S. Diemer)

Abschließend kann also gesagt werden, dass versucht wird den alten Strukturen einen modernen Geist einzuhauchen und Raum für Neues geschaffen werden soll. Die aktuellen Entwicklungen sind bei weitem noch nicht abgeschlossen, doch offenbaren bereits jetzt interessante Einblicke in die bauliche und wirtschaftliche Entwicklung des Stadtteils Oberschöneweide. In diesem Sinne wurde, in Bezug auf das oben genannte Zitat, der Kunst Raum gegeben um sich entfalten zu können. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass es sich dabei eher um die produzierende Kunst handelt (Ausstellungen, Kunstverkauf etc.) und weniger um die „gelebte Kunst“. Es stellt sich also die Frage, ob der Raum primär für wirtschaftliche Aufwertungsstrategien des Stadtgebiets genutzt wird und dabei künstlerische Freiheit und Aktivitäten in den Hintergrund geraten können.

 

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