Neue Arbeit auf dem RAW-Gelände

Gegen Nachmittag des zweiten Exkursionstages hat sich die Exkursionsgruppe in kleinere Gruppen aufgeteilt, um einzelne Gebiete in Berlin zu untersuchen und die Ergebnisse in Form einer Kartierung festzuhalten (siehe Kartierung). Wir beschäftigen uns mit dem ehemaligen Gelände der Reichsbahn-Ausbesserungs-Werke (RAW-Gelände) in Friedrichshain nahe der Warschauer Straße. Thema der Untersuchung ist das Phänomen Neue Arbeit, dass die immer mehr verschwimmende Grenze zwischen Arbeit und dem Privatleben beschreibt. Diese ist beispielsweise an ungewöhnliche Arbeitszeiten (also der Abkehr vom klassischen 9-5-Working) oder dem Schlagwort ‚das Hobby zum Beruf machen‘ erkennbar. In Zusammenhang gestellt wird diese Thematik mit immobilienwirtschaftlichen Fragestellungen und politischen Kämpfen um ein Recht auf Stadt.

Gegen 18:00 Uhr erreichen wir das Gelände und stellen fest, dass es mäßig besucht ist, was uns jedoch aufgrund unserer Hintergrundinformationen nicht verwundert. Das RAW-Gelände gilt als eine authentische Partymeile Berlins und füllt sich dementsprechend erst am späten Abend. Am westlichen Eingang des Geländes (siehe Abbildung 1) hat sich ein kleiner Teilbereich mit dem Namen Urban Spree angesiedelt, der sich aus Bars und einem Kunstshop bzw. einer Galerie zusammensetzt. Dort führen wir unser erstes Interview mit einem Verkäufer. Trotz der Sprachbarriere (der Verkäufer ist Franzose) können wir herausfinden, dass der Laden seit sechs Jahren besteht und dabei gewöhnliche Arbeitszeiten hat – er ist sechs Mal die Woche bis 19:00h geöffnet. Bei unserem darauffolgenden Rundgang durch die Galerie fällt uns auf, dass es sich trotz des Ambientes und des Rufs des RAW-Geländes um einen hochpreisigen Laden handelt. Ein Beispiel für dieses hochpreisige Segment ist unter anderem eine Photographie für die 4.500€ verlangt wird.

Wir bemerken, dass der Rest des Geländes weiterhin noch schwach besucht ist und entscheiden, dass sich ein Weiterführen der Begehung zum aktuellen Zeitpunkt nicht lohnt. Wir verlassen das Gelände, um die sich an das Gebiet anschließende Simon-Dach-Straße zu besuchen. Diese bildet einen starken Kontrast zum RAW-Gelände, da es den Anschein macht, dass die in ganz Friedrichshain-Kreuzberg einsetzende Gentrifizierung dort bereits abgeschlossen ist – etwas, was man vom RAW-Gelände nicht behaupten kann. Wir finden dort ausschließlich ein vielfältiges Gastronomieangebot, gepaart mit Modeläden, welche eindeutig auch Touristen als Zielgruppe ausgemacht haben. Ein Indiz sind unter anderem die Speisekarten, die auf Englisch verfasst wurden. Unsere Annahme deckt sich mit den Beobachtungen einiger Gäste, mit denen wir uns unterhalten (die wenigsten sprechen deutsch), während wir dort selbst unser Abendessen einnehmen.

Abbildung 1: westlicher Eingang RAW-Gelände (Foto: S. Ritter)

Gegen 20:00h geht unsere Erkundung des RAW-Geländes weiter (siehe Abbildung 2). In der Mitte des Geländes lassen sich eine Vielzahl an Klubs, Gastronomie, eine Skater – und eine Kegelhalle (alle zusammen später als Ensemble beschrieben) erkennen. Letzteres, die dort ansässige Kletterhalle Kegel, besuchen wir, da sie als eine der wenigen Locations um diese Uhrzeit Besucher zu verzeichnen hat. Wir unterhalten uns mit einem Mitarbeiter. Der Befragte arbeitet hauptberuflich dort – jedoch nicht in Vollzeit – und schätzt seine Arbeit mehr als eine Mischung zwischen Hobby und Beruf ein, was vor allem mit seiner emotionalen Bindung zum Klettersport zu tun hat. Damit verbunden, gibt er an, auch ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Vorgesetzten und dem Rest der Belegschaft zu haben, die außerhalb der Arbeit auch gemeinsam ihre Freizeit gestalten. Bezüglich der Akteurskonstellation auf dem Gelände wird nach und nach klar, dass es eine erhöhte Spannung zwischen den einzelnen Akteuren gibt. Auf der einen Seite ist die Partyszene hier zu finden, durch die der Drogenverkauf und -konsum gefördert wird, und zum anderen Akteure, wie die Kletterhalle, deren Gäste durch negative Auswirkungen der Partyszene, wie z.B. erhöhte Kriminalität, verschreckt werden. So berichtet auch der Befragte, dass gerade Besucherinnen in den Abendstunden nur ungerne das Gelände alleine überqueren. Durch eine gesteigerte Polizeipräsenz konnte dieses Spannungsverhältnis jedoch gelöst werden. Auch unabhängig von diesem Konflikt besitzt die Halle einen Sonderstatus im Vergleich zu anderen Berliner Hallen. Das Ensemble, die Klientel und die Geschichte des Geländes fungieren als indirekte Werbung, so dass viele Touristen/-innen und Neukunden/-innen kommen.

Abbildung 2: Mitte des RAW-Geländes (Foto: S. Ritter)

Anschließend besuchen wir die Hausbrauerei Schalander im östlichen Teil des Geländes. Dort interviewen wir einen Kellner, der selbst noch nicht so lange in Berlin wohnt und uns seine frischen Eindrücke schildert. Typisch für einen Gastronomiebetrieb dauern die Arbeitszeiten bis in die späten Stunden und sind dementsprechend nichts Verwunderliches. Kompensiert wird das meist durch die Kürze der Schichten sowie die flexible Schichteneinteilung. Das Verhältnis zu seinem Chef sei klar geregelt, jedoch bestehe ein lockerer und vertrauensvoller Umgang. Er selbst sieht das Schalander separiert vom Rest der Akteure aufgrund der abgeschiedenen Lage. Das ist für ihn auch ein Grund, warum der Betrieb seine Authentizität wahren konnte, denn die Gäste setzten sich in erster Linie aus Stammkunden/-innen und weniger aus Touristen/-innen zusammen. Letztere sind auch die, die er mit dem Drogenverkauf in Verbindung bringt und als einen Hauptanziehungspunkt für den Besuch des Geländes sieht. Ähnlich, wie bereits der Mitarbeiter aus der Kletterhalle beschrieben hat, beschreibt auch der Kellner eine Abnahme der Intensität des offenen Drogenverkaufs mit zunehmender Polizeipräsenz.

Ein Grund für die räumliche Trennung des Schalanders ist eine Brachfläche, die zwischen der Brauerei und dem Rest des Ensembles liegt. Wir finden keine Beschilderung des umzäunten Abschnittes, erkennen aber einen Wachmann in einem Container, der offensichtlich für die Bewachung der Fläche verantwortlich ist. Er erklärt sich trotz seiner Pflichten bereit für ein Gespräch. Der Wachmann berichtet von einer Nutzungsstruktur des Geländes, die sehr von Tourismus geprägt ist. Die Klubszene hat während der Sommermonate sieben Tage die Woche geöffnet, im Winter nur sechs Tage. Des Weiteren berichtet er von einer hohen Kriminalität, so dass es gut möglich ist, dass es in einer Nacht bis zu ein Dutzend Festnahmen kommen kann. Diese hohe Kriminalität habe unter anderem zur Herausbildung eines ‚Angstraums‘ insbesondere für Frauen geführt. Die Fläche, die er bewacht, gehöre einem bayrischen Investor, der dort luxuriöse Studentenwohnheime hinbauen wolle, da (angeblich) der Rest des Geländes zu einem Campus verwertet werden solle. Die Arbeitsstrukturen des Wachmanns belaufen sich auf vier Schichten à 12h, wobei diese von klaren Hierarchien geprägt sind – der Informationsfluss ist dabei auf das Nötigste beschränkt. Seine Sicherheitsfirma sei lediglich da, um das Gelände zu bewachen, da es bereits Gegenbewegungen gegen das Bauvorhaben gebe.

Gegen Ende unserer Begehung entdecken wir im Ensemble, das an die Revalerstraße angrenzt, den Verein RAWcc. Wir finden dort zwei Mitglieder des Vereins, die sich abends zusammengefunden haben, um eine kommende Veranstaltung zu planen. Sie erzählen, dass solche Planungen meistens abends stattfänden, da man über den Tag seinem eigentlichen Beruf nachgehen müsse. Sie ergänzen, dass sie aufgrund ihrer Aktivitäten im Verein ohnehin schon in ihrer normalen Arbeit kürzertreten oder auf ein besseres Gehalt verzichten, da ihnen der Verein wichtiger sei. Des Weiteren berichten sie, dass der Verein zu den eigentlichen Erstnutzern des Geländes gehöre und diese sich zusammen das sozio-kulturelle L (siehe Kartierung) nennen, bestehend aus Künstler- und Musikerhäusern sowie der Kletter- und Skatehalle. Erst mit der zunehmenden Privatisierung sei eine wachsende Klubszene entstanden, die zum einen die Profite auf dem Gelände erhöhen konnte, aber zum anderen auch eine höhere Kriminalität befördert habe. Der Verein setzt sich für eine Förderung der Künstler auch in Kooperation mit den Klubs ein, indem beispielsweise Auftrittsmöglichkeiten geschaffen werden. Das Bilden einer Allianz erschwere sich jedoch in den meisten Fällen, da diese meist nur vom Verein, aber nicht von den Klubs forciert werde. Ziel und Hoffnung des Vereins ist es, das Image des Geländes von einem Party- und Drogen-Hotspot hin zu einem sozio-kulturellen Begegnungsort zu wandeln. Dazu bestehen auch Kooperationen mit der lokalen Politik. Ein Beispiel für diese Zusammenarbeit ist das Konzept der Bürgervision 2040.

Interessanterweise wird hier deutlich, dass die Vereinsmitglieder sich auch auf einer theoretischen Ebene mit den Thematiken auseinandersetzen. Uns werden Unterlagen und Artikel aus Zeitschriften angeboten und mitgegeben, die sich mit bürgerlicher Partizipation und dem Recht auf Stadt auseinandersetzen. Während unseres Gesprächs nehmen wir Bezug auf die Aussagen des Wachmanns und den Plänen der bayrischen Investoren, worauf die Vereinsmitglieder verärgert reagieren – diese Pläne werden in Regelmäßigkeit propagiert, entsprächen aber nicht der Wahrheit, da man unter anderem durch die Bürgervision 2040 einen neuen Bebauungsplan mit partizipativem Charakter artikulieren konnte.

Ein Fazit formulierend, lässt sich festhalten, dass auf und rund um das Gelände fast kein normales 9-5-Working zu finden ist. Das liegt in erster Linie daran, dass hauptsächlich Gastronomie oder freizeit-basierte Angebote dort ansässig sind, die sich auch verantwortlich für die Etablierung des RAW-Geländes als Kultur- und Nightlife-Hotspots zeigen. Die außergewöhnlichen Arbeitszeiten scheinen den Befragten nichts auszumachen, da sie ihre Arbeit meist mit einer hohen emotionalen Bindung ausüben. Manchmal ist diese Bindung so hoch, dass die Arbeit unentgeltlich ausgeübt wird, wie in unserer letzten Befragung deutlich wird. Besonders dieses Ehrenamt spielt eine tragende Rolle für die Aufrechterhaltung des jetzigen RAW-Geländes und deren Bewegung gegen die bekannten Aufwertungsprozesse und für die Authentizität des Geländes und seine Akteure.

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