Die Selbstbezeichnung „Charm City“ für die Stadt Baltimore mit ihren heute rund 620.000 Einwohnern stammt aus dem Jahr 1975. Damals waren weite Teile der von Hafen und Schwerindustrie geprägten Stadt von einem tiefgreifenden Strukturwandel geprägt. Ein Team von Marketing-Spezialisten entwickelte den Beinamen „Charm City“ um das Image der Stadt zu verbessern.
Nach Baltimore brachte uns der MARC Train, der zwischen der Union Station in Washington DC und Penn Station in Baltimore verkehrt. Das aus dem Jahr 1907 stammende Empfangsgebäude der Union Station zeigt die ehemals hohe Bedeutung des Verkehrsträger Schiene, während heute das Land vom individuellen Personenverkehr dominiert wird. Die Abfertigung von Passagieren scheint so in der Union Station eher marginal zu sein, während man aus einer fast endlosen Auswahl an Cafés und Schnellrestaurant wählen kann. Die Bahn selbst benötigt für die ca. 60km eine gute Stunde.
Zwar befindet sich in Baltimore das Wohnhaus und Grab von Edgar Allan Poe sowie der Geburtsort von Frank Zappa, doch vielen dürfte die Stadt als „Body more, Murderland“ (in Anlehnung an Baltimore, Maryland) aus der HBO-Serie „The Wire“ bekannt sein. Dies ist kein Zufall, denn Baltimore hat unter den US-amerikanischen Großstädten am stärksten mit Armut, Verwahrlosung und Drogenabhängigkeit zu kämpfen. Dies geht einher mit einem Bevölkerungsschwund von 949.708 Einwohnern im Jahr 1950 auf 620.000 im Jahr 2018. Dabei ist die Stadt selbst
durchaus von nationaler Bedeutung. Sie war Inspirationsort für die amerikanische Nationalhymne und schmückt sich damit, das erste Washington Memorial errichtet zu haben. Noch vor Washington DC.
Am inneren Hafen angekommen, zeigt sich auch die – inzwischen zurückgegangene – Bedeutung als Umschlagplatz für Waren aller Art. Als südlichster Hafen an der Atlantikküste kamen hier beispielsweise Zuckerimporte an, die dann
direkt in der Domino Zuckerfabrik verarbeitet wurden. Mit dem Strukturwandel der 1970er legte man um den inneren Hafen herum Pavilions und eine Promenade an, die heute jedoch von starkem Leerstand geprägt ist. Hier eröffnet sich ein Handlungsfeld für die gegenwärtige Stadtplanung, die jedoch mit geringen finanziellen Handlungsmöglichkeiten zu kämpfen hat. Einzelne Anker sind das Nationale Aquarium sowie das vorbildlich als Einzelhandelszentrum sanierte ehemalige Kraftwerk am Hafen.
Im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Auswanderungswellen aus Europa entwickelte sich Baltimore auch zu einem Zentrum der italienischen und ostmitteleuropäischen Emigration. Die ehemals von diesen Bewohnern geprägten Viertel befinden sich direkt entlang des Hafens. Heute wohnen die meisten ihrer Nachfahren jedoch in den Vororten, während die einstig italienischen, polnischen oder ukrainischen Quartiere – zumeist einfache Reihenhäuser – von Hispanics und Afro-Amerikanern bewohnt werden.
Während „Little Italy“ auch heute noch gut durch zahlreiche italienische Restaurants als „italienisches Viertel“ zu erkennen ist, zeugen von den ostmitteleuropäisch geprägten früheren Bewohnern nur noch einzelne Delikatessenläden, ein Museum und Banner für ein „Polish Festival“. Direkt an diese Viertel schließen sich jedoch bereits schon Bereiche an, die von starken Infrastrukturellen Defiziten geprägt sind.
Baltimore als Charm City? Sicherlich, wenn man einen teilweise maroden, unfertigen und rohen Charme schätzt. Eine Stadt wie gemacht für Geographen, aber vielleicht weniger für den Touristen. Der Rückweg nach DC gestaltete sich dann jedoch ganz und gar nicht charmant. Aufgrund der Warnung vor einem (eigentlich noch weit entfernten) Hurrikan fuhr der Zug nur bis Savage MD und sollte dort bis maximal 22 Uhr bleiben. Wir entschieden uns jedoch mit Taxis den Rest bis zum Hostel über (zum Teil trockene) Straßen zu fahren.