Rundgang zu Webtech Urbanism

Am dritten Tag der Berlin-Exkursion steht ein Rundgang im Berliner Stadtteil Kreuzberg mit dem Thema Webtech-Urbanism auf der Agenda. Startpunkt ist das May-Ayim-Ufer in Kreuzberg, dessen Namensgebung Ausdruck einer kritischen Reflexion und Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte ist. Bis 2010 führte das Ufer den Namen Gröbenufer, benannt nach Otto Friedrich von der Groeben, der durch die Gründung der kurbrandenburgischen Kolonie Groß Friedrichsburg in Westafrika am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt war und dadruch fragwürdige Berühmtheit erlangte (Vgl. auch Kwesi 2009). Die Namensgeberin der heutigen Uferbezeichnung ist die afrodeutsche Schriftstellerin und Aktivistin May-Ayim, die sich vor allem gegen Formen des Alltagsrassismus engagierte. Die folgerichtige, jedoch alles andere als selbstverständliche Umbenennung des Ufers wurde vor Ort durch eine Hinweistafel veranschaulicht.

Mit dem Blick auf das Investorenprojekt ‚Mediaspree‘ berichtet eine Studierendengruppe von ihrer dortigen Ortsbegehung am Vortag, die Experten des Tages, die kritischen Stadtforscher Valentin Domann und Nils Grube geben eine Einführung zum anstehenden Rundgang.

Route des Rundgangs (GoogleMaps Eigene Bearbeitung)

Nach den einführenden Worten laufen wir wenige Minuten in Richtung Südosten zur Cuvry-Brache (Cuvrystraße/Ecke Schlesische Straße), wo Kämpfe um den begrenzten städtischen Raum in Berlin deutlich skizzierbar sind. Während AnwohnerInnen und SympathisantInnen für bezahlbaren Wohnraum und sozio-kulturelle Zentren kämpfen, sieht die Landesregierung großes (ökonomisches) Potenzial bei der Etablierung einer innovativen und kreativen Start-up-Szene. Von Valentin und Nils erfahren wir etwas über die jüngere Geschichte der Fläche: 2011 wurde das Areal von einem Investor erworben, der eine Wohnanlage mitsamt Kindertagesstätte und Einkaufsmöglichkeiten schaffen wollte. Dieses Projekt, namentlich die ‚Cuvryhöfe‘, hätte aber laut dem Berliner Senat auch Sozialwohnungen integrieren müssen. Dies war jedoch nicht im Sinne des Investors. Stattdessen sollte nun eine Projektidee umgesetzt werden, die bereits in den frühen 2000er Jahren auf breite Ablehnung stieß, die ‚Spreespeicher‘. Hotels und Restaurants waren geplant, auch Wassertaxis, die die TouristInnen an das Ufer bringen – all jenes selbstredend ein Schreckensszenario für die AnwohnerInnen des Kiezes. Eine Besetzung des Areals von „Punks, Aussteigern und Roma“ (Aussage Nils) sorgte im Zeitraum von 2012 bis zur Räumung 2014 für zahlreiche Schlagzeilen. Die Rede war hierbei symbolträchtig von „Deutschlands erster Favela“ (Aussage Nils, SpiegelTV). Nachdem sich 2014 Landes- und Bezirksregierung einig geworden waren Gewerbeflächen zu etablieren und sich anschließend das Unternehmen Zalando als Mieter ankündigte, wurden die Schlagzeilen nicht weniger. Ein großkapitalistischer Megakonzern im alternativen Kreuzberg? Klingt dystopisch. Im Januar 2018 jedoch lehnt Zalando das Vermieterverhältnis vorzeitig wieder ab, mit der Begründung die Bauarbeiten würden zu langsam vonstattengehen. Das klingt nach einer fadenscheinigen Begründung, insbesondere vor dem Hintergrund erneuter Spannungen und Proteste der Bürger und Bürgerinnen im Bezirk. Wer als nächster Mieter für die Gewerbeflächen in Frage steht, ist noch unklar, die Landesregierung begrüßt technologische Start-ups. Ob diese von den Anwohnern und Anwohnerinnen wohlwollender aufgenommen werden, ist hingegen mehr als fraglich. Diese Geschichte der Cuvry-Brache zeigt uns eindringlich zwei Dinge. Zum einen wird deutlich, dass Stadtentwicklung in Zeiten ‚kapitalistischer Urbanisierung‘ kein schleichender und stetiger Prozess ist, sondern oft eruptiv und überbordend daherkommt. Kapitalistische Großprojekte als lukrative Verwertungsstrategie, etwa im Sinne von David Harveys “temporal fix‘, absorbieren langfristig dem Kapitalismus immanente Kapitalüberschüsse und verhindern so eine krisenhafte Entwertung derselben. Erst langsam, dann aber stetig generieren diese Projekte selbst Mehrgewinne, die dann ihrerseits in weitere ähnlich gelagerte Bauvorhaben fließen, um nicht Gefahr zu laufen entwertet zu werden. Eine zweite Erkenntnis ist aber die, dass diese Form der Urbanisierung nicht, und vor allem nicht in Berlin, konfliktfrei von statten geht. Engagierte BürgerInnen, die sich vom kapitalistischen ‚Alltagsverstand‘ (nach Gramsci) emanzipieren, setzten sich zur Wehr und fordern ihr Recht auf städtische Teilhabe (nach Lefebvre) ein (etwa die Nachbarschaftsinitiative ‚Bizim-Kiez‘, die solidarisch und bewegungsorientiert gegen eben jene Logik und Handlung von städtischer Verwertung vorgeht). Die Cuvry-Brache steht daher auch symbolisch dafür, dass geplante Großprojekte nicht immer Umsetzung finden müssen. Eine kritische Bürgerschaft, der es gelingt auch Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, kann zumindest ein Milieu schaffen, das es Investoren erschwert ihre Vorhaben umzusetzen.

Die nächste Station ist die Zentrale des Online-Lieferdienstes Deliveroo in der Schlesischen Straße. Das Geschäftsmodell des weltweit tätigen Dienstleisters ist es, die Logistik von Partner-Restaurants zu übernehmen – von der digitalen Speisekarte über die Auftragsbearbeitung bis hin zur Auslieferung durch die vielen freiberuflich angestellten Kuriere, die das Stadtbild zunehmend prägen. Die Sorge, die Valentin und Nils hierbei greifbar machen, ist eine schleichende kulturelle Verdrängung durch die Tech-Angestellten der Großbüros, die – ihrem Habitus entsprechend – ganz andere Anforderung an städtisches Leben haben, als die (bisherigen) AnwohnerInnen des Kiezes.

Deliveroo Zentrale (Aufnahme: Ihar Buika)

Eine Befürchtung in diesem Kontext ist beispielsweise der stetige Austausch des lokalen Gewerbes durch sich unterscheidende Konsumgewohnheiten; auch steigende Mieten sind im Zuge eines Gentrifizierungsprozesses wahrscheinlich. Da diese Verdrängung gewissermaßen latenten Charakter hat, ist zu erwarten, dass die Formierung von lokalen Protestformen schwierig sein wird. Formen des Widerstandes sind immer dann am wirkungsvollsten, wenn die Projektionsfläche der Unzufriedenheit möglichst (be)greifbar ist. Im diesem Fall ist die Unterschwelligkeit der kulturellen Verdrängung also möglicherweise gleichzeitig die Schwierigkeit einen breit angelegten Protest zu formieren. Hinzu kommt, dass die symbolische Aufladung des Areals, die etwa bei der Cuvry-Brache sehr hoch ist (sichtbar auch an den ehemaligen ‚Cuvry-Graffitis‘) hier ungleich geringer ist. Auch dies macht es Gegenbewegungen schwerer breite Unterstützung in der Bevölkerung zu finden.

Anschließend überqueren wir die Spree, biegen rechts in die Lohmühlenstraße ein, bis wir schließlich auf einer Brücke am Görlitzer Park einen guten Blick auf die Factory haben. Die Factory ist ein Business-Unternehmen für technologische Start-ups, das bereits über 2000 Mitglieder zählt. Wir erfahren, dass hier auch die sogenannte CODE-University entsteht, die in dem Vorhaben, Berlin zur Start-up-Metropole zu transformieren, einen wichtigen Motor darstellen soll. Schon bald sollen von Berlin aus ProgrammiererInnen und DesignerInnen die digitalen Produkte für die Welt von morgen und übermorgen entwickeln. Dass im Zuge dessen langjährig angesiedelte Ateliers und soziale Träger entschädigungslos weichen mussten, scheint bei dem Hype zur Randnotiz zu verkommen. Bemerkenswert ist, dass bereits jetzt Schwergewichte der (Auto)Industrie wie BMW oder Porsche als Partner und Mentoren bereitstehen.

Factory (Aufnahme: Ihar Buika)

Diese Art der externen Intensivförderung macht deutlich, dass hier Kreativität und Innovationsgeist geschaffen und nutzbar gemacht werden sollen. Dahinter steht zweifellos kein Konzept, das auf lokale Strukturen aufbaut, geschweige denn diese fördert. Vielmehr wird künstlich ein Milieu geschaffen, dass eigene, autarke Strukturen erschafft und – so ist es zu befürchten – früher oder später auch weiter verlagert. Strukturierter Planung und künstlicher erzeugter(statt  tatsächlicher) Kreativität wird Vorschub geleistet. Der Idee einer ‚Stadtentwicklung von unten‘ (Verweis auf Dragonerareal Tag 1), steht also hier gewissermaßen das Konzept der ‚Stadtentwicklung von außen‘ entgegen – lokale Kompetenzen sollen und wollen im Zuge dessen nicht erst genutzt werden, sie werden verdrängt.

Ursprünglich stand auf der Agenda den geplanten Google-Campus im Umspannwerk Kreuzberg zu besichtigen. Aus Zeitgründen endete unsere Exkursion jedoch bereits im Görlitzer Park. Dennoch diskutierten wir über das Konzept der Initiatoren des Campus. Von Valentin als „Plattformkapitalismus“ bezeichnet, versucht Google in Metropolen lokale Wissensbestände in ihr Unternehmen zu integrieren, sich intensiv zu vermarkten und das Image zu stärken. Über ein Fördersystem, das den UnternehmerInnen jeglicher Sparte etagenweise Fördermittel zusichert, sollen erfolgreiche Unternehmen langfristig in das Google-Netzwerk integriert werden. Allerdings haben sich zahlreiche Initiativen gegründet, die auf vielfältige Weise etwa gegen befürchtete Gentrifizierungsprozesse, Überwachung und die Ausbeutung von lokalem Wissen protestieren. In all den Großstädten (Madrid, London, Warschau, Tel Aviv, San Fransisco…), in denen Google das Vorhaben des Campus bereits durchgesetzt hat, hat sich wenig Widerstand formiert, in Berlin dafür umso stärker. Dies spricht dafür – und das soll auch ein Fazit dieses Exkursionstages sein –, dass Berlin aktuell stark in den Fokus der Tech-Branche gerät, sich jedoch mit bürgerlichen Kräften gegen den Webtech-urbanism wehrt, der im Begriff ist das Stadtbild und die Stadtgesellschaft zu prägen. Die große Diversität Berlins (Lebensstile) im Allgemeinen und von Kreuzberg im Speziellen steht dabei im starken Kontrast zu den Homogenisierungstendenzen von Factory, Google-Campus und Co. – weitere Konfliktlinien werden daher sicher auch künftig aufbrechen und womöglich zu einer noch breiteren Solidarisierung mit bestehenden oder auch völlig neuen Protestformationen führen.

Weitere Quellen:

Joshua Kwesi Aikins (2009): May-Ayim-Ufer. http://isdonline.de/may-ayim-ufer/. Zugriff: 13.06.2018

SpiegelTV. (2014): Cuvry-Brache in Berlin-Kreuzberg: Die Feelgood-Favela.  https://www.youtube.com/watch?v=9LQ6wiDYamo. Zugriff: 22.06.2018

Jürgen Stüber und Lorenz Vossen (2017): Cuvry-Brache: Ein Kiez wird „disneyfiziert.“ In: Berliner Morgenpost. 16.04.2017 Online: https://www.morgenpost.de/bezirke/friedrichshain-       kreuzberg/article210268751/Cuvry- Brache-Ein-Kiez-wird-disneyfiziert.html Zugriff: 20.06.2018

Christian Gehrke (2018): Cuvry-Brache Zalando bezieht neue Büros nun doch nicht. In: Berliner Zeitung 23.03.2018. Online: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/cuvry-brache- zalando-bezieht-neue-bueros-nun-doch-nicht-29913210

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